Natan Grossmann ist dem Tod entronnen. Im Ghetto von Łódź. In Auschwitz. Auf dem Todesmarsch nach Ludwigslust. Er ist ein Teenager, als die Nazis das dunkelste Kapitel seines Lebens schreiben. Jahrzehntelang streicht er es aus seinem Gedächtnis. Bis er im hohen Alter eine Regisseurin trifft und mit ihr zu den Stätten seiner Kindheit reist. „Linie 41“ heißt der Dokumentarfilm, der daraus entstanden ist und bei der diesjährigen Veranstaltung des Landtages zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus gezeigt wurde. Ein Film, der erzählt, wie Opfer, Täter und ihre Nachkommen mit den Ereignissen von damals umgegangen sind.
Im Ghetto von Łódź
Herbst 1939. Zgierz, ein jüdisches Schtetl zehn Kilometer von Łódź entfernt. Hier leben die Grossmanns: Natan, sein älterer Bruder Ber, Mutter Bluma und Vater Avram. Der Vater ist Schuster. Die Familie wohnt in zwei Zimmern zur Untermiete. Die beiden Jungs gehen zur Schule. Natan ist zwölf, als die Wehrmacht in Zgierz einmarschiert, alle Juden vertreibt und ins Ghetto nach Łódź steckt. Hier, im zweitgrößten nach Warschau, leben 1940 um die 160.000 Menschen. Über die Jahre waren es 200.000. Mitten in der Stadt. Eingepfercht auf vier Quadratkilometern. Wer dem Zaun aus Planken und Stacheldraht zu nahe kommt, wird erschossen. Łódź soll eine deutsche Stadt werden, heißt ab April 1940 Litzmannstadt. Und während auf der einen Seite des Zauns der Aufbau voranschreitet, sterben auf der anderen Seite täglich Kinder, Frauen, Männer. Vor Hunger, Kälte, Erschöpfung. Weil sie krank sind. Oder ins Vernichtungslager deportiert werden. Mitten durch diese beiden Welten rattern Straßenbahnen. Eine von ihnen ist die Linie 41. Die Fahrgäste: Deutsche und Polen. Haltestellen gibt es auf dem Abschnitt nicht. Bewaffnete Wachleute sorgen zusätzlich dafür, dass keiner ein- und aussteigt.
Im März 1942 verschwindet Ber. Erst bei den Dreharbeiten erhält Natan die Gewissheit, dass sein Bruder im Vernichtungslager Chelmno (Kulmhof) vergast wurde. Einige Monate nach Bers Verschwinden muss sein Vater zu einem Verhör. Er kehrt nie zurück. „Ich konnte nicht mal das Kaddisch für ihn sagen“, erzählt Natan Grossmann im Film. Kurz darauf verhungert seine Mutter.
Auschwitz, Zwangsarbeit, Todesmarsch
Im August 1944 wird Natan Grossmann mit 65.000 Menschen nach Auschwitz deportiert. Die meisten von ihnen werden unmittelbar nach ihrer Ankunft vergast. Natan hat Glück. Er hatte im Ghetto in einer Schmiede gearbeitet, ist kräftiger als viele andere und wird zum Arbeiten gebraucht. Nach drei, vier Wochen lässt der Kommandoführer alle Metallarbeiter vortreten. Für eine Fabrik in Braunschweig werden Arbeiter gesucht. So entkommt er Auschwitz.
Auf Auschwitz folgt das KZ-Außenlager Vechelde, von da der Todesmarsch nach Ludwigslust. Natan überlebt. Am 2. Mai 1945 wird das KZ Wöbbelin von den Amerikanern befreit. Da ist er siebzehneinhalb. Und der einzige seiner Familie, der den Krieg überlebt hat.
Neues Leben in Israel
1946 geht er nach Israel. „Dort habe ich mein vorheriges Leben annulliert“, erzählt er auf der Gedenkveranstaltung in Schwerin. Er arbeitet in der Landwirtschaft, kämpft 1948 im Unabhängigkeitskrieg mit. Ende der 50er-Jahre kommt er nach Deutschland. Die Erfrierungen aus dem Ghetto machen ihm zu schaffen. In München sitzt ein Spezialist, sagen die Ärzte in Israel. Hier verliebt er sich in eine Deutsche – und bleibt. „Sie ist die beste Wiedergutmachung, die ich von Deutschland bekommen konnte“, sagte er einmal. Die Zeit der Gefangenschaft, das Schicksal seiner Familie verdrängt er, so gut es geht.
Natan Grossmann ist über 80, als er Tanja Cummings trifft. Die Regisseurin sucht Zeitzeugen für einen Dokumentarfilm über Łódź. Mit ihr redet er das erste Mal über seine Geschichte. Gemeinsam reisen sie zu den Stätten seiner Kindheit.
Zwei Väter
Seine Suche nach der Vergangenheit kreuzt sich mit der von Jens-Jürgen Ventzki. Auch er sucht nach Antworten. Sein Vater war zu jener Zeit Oberbürgermeister von Łódź – und damit auch verantwortlich für die Zustände im Ghetto. Eine Ahnung, erzählt er im Film, sei immer da gewesen. „Aber ich hatte null konkrete Hinweise.“ Die Eltern hätten bis zuletzt geschwiegen. In den 1990ern beginnt er zu recherchieren. Das Bild vom liebevollen Vater zerbirst. „Ich muss zur Kenntnis nehmen, dass ich zwei Väter hatte“: den liebevollen, der mit seinen Kindern lacht, albert, Mensch-ärgere-dich-nicht spielt. Und den, der die Menschen im Ghetto verhungern lässt. „Mein Vater ist für mich genauso ein Täter wie jemand, der geschossen hat.“
Landtagspräsidentin Sylvia Bretschneider zollte ihm dafür großen Respekt. „Ich habe das erste Mal erlebt, dass wirklich jemand sagt: Ich stehe dazu: Mein Vater hat sich schuldig gemacht. Davon gibt es viel zu wenige Beispiele.“
Geschichte lebendig machen
Seit der Film im September 2015 veröffentlicht wurde, ist Natan Grossmann bei vielen Veranstaltungen zu Gast. „Sie können Geschichte lebendig machen. Sie sind für alle, die diese schreckliche Zeit zum Glück nicht miterleben mussten, die Brücke in die Vergangenheit“, bedankte sich Sylvia Bretschneider für sein Kommen nach Schwerin. Dabei möchte der 89-Jährige eigentlich gar nicht, dass man ihm dankt. Für ihn sei es eine Verpflichtung, seine Geschichte zu erzählen, sagt er. „Denn das, was damals war, darf nie mehr passieren. Aber es gibt auch heute Stimmen, nicht nur in Deutschland, die sagen, dass der Holocaust nicht stattgefunden hat. Und denen habe ich persönlich den Kampf angesagt.“
Opfer, Täter, Zuschauer
Als Regisseurin Tanja Cummings 2008 mit den Recherchen beginnt, hatte sie eine ganz andere Vorstellung, worum es in ihrem Film gehen soll. Auslöser für die erste Reise nach Łódź sei Israel J. Singers Buch „Die Brüder Ashkenasi“ gewesen, erzählt sie im Anschluss an den Film. „Darin beschreibt Singer die Zeit vor dem Krieg und das enge Verhältnis von Deutschen, Juden und Polen in der Stadt. Das war das, was mich zunächst am stärksten interessiert hat.“ Die Zeitzeugen, die sie trifft, sprechen jedoch kaum über die Vorkriegszeit. „Alles drehte sich im Grunde um den Krieg und das Ende des Łódźer Menschen“, sagt Cummings. Als sie von der Straßenbahn hört, die mitten durch das Ghetto fuhr, ist für sie klar, dass die Täterperspektive, die Opferperspektive und die Perspektive derer, die aus der Bahn zusehen, die tragenden Rollen spielen werden. Natan Grossmann geht es indes noch um etwas anderes: Für ihn räumt der Film auch mit der Vorstellung auf, dass alle Juden reich sind. „In Osteuropa herrschte große jüdische Armut.“
Im Film begegnen sich Natan Grossmann und Jens-Jürgen Ventzki nur einmal. Ein emotionaler Moment für beide. Inzwischen sind sie Freunde, erzählen ihre Geschichte oft gemeinsam bei Veranstaltungen. Auch nach Schwerin wären sie zusammen gekommen, wäre Jens-Jürgen Ventzki nicht krank geworden. „Wir haben beide beschlossen, so lange wir leben für die Wahrheit zu kämpfen.“