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Landtag gedenkt der Opfer des Nationalsozialismus 2018 | Das schwere Erbe

  • Jens-Jürgen Ventzki berührte die Gäste mit seinem bewegenden Schicksal.
  • An der Gedenkfeier nahmen rund 90 Schweriner Schülerinnen und Schüler teil. Viele – wie hier Jugendliche von der IGS „Bertolt Brecht“ – suchten anschließend das Gespräch mit Jens-Jürgen Ventzki.

„Wegen der Finanzierung des Ghettos teilte ich Ihre Bedenken eigentlich schon vor Wochen. Man kann also getrost noch kurze Zeit die weitere Entwicklung abwarten […]. Es wird sich ja alsbald herausstellen, ob die nicht arbeitsfähigen reichsdeutschen Juden uns verbleiben und dann monatlich von Reichswegen bezuschusst werden müssen oder ob sie mit unter die ‚Aktion‘ fallen. Ich persönlich glaube an das Letztere und damit wäre die Sache in der Tat erledigt.“ 

Deutliche Worte des Oberbürgermeisters von Litzmannstadt (Łódź). Verfasst im März 1942. Der Mann, der sie den Abgeordneten und Besuchern im Plenarsaal vorliest, ist sein Sohn. Jens-Jürgen Ventzki erfährt erst spät von der Vergangenheit seines Vaters. Seitdem hat er dessen Rolle während der Nazi-Zeit recherchiert. Anlässlich des Holocaust-Gedenktages gab er bei der Gedenkfeier des Landtages Einblicke in ein schweres Erbe.

Die dumpfe Vorahnung

„Zur Rücksprache mit Herrn Biebow, 11.5.“ Jens-Jürgen Ventzki erkennt sie sofort. Die Handschrift seines Vaters. Gekritzelt an den Rand eines Schreibens vom 8. Mai 1942. Darin bittet das Amt für Volkswohlfahrt, Textilien, „die im Zuge der Judenaktion“ im Ghetto Łódź/Litzmannstadt „frei werden“, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt zu überlassen. 

Es ist ein Frühlingstag im Jahr 1990, als ihn „ein dumpfes Gefühl der Vorahnung“ durch das Jüdische Museum in Frankfurt am Main begleitet. Auf dem Rundgang erzählen Bilder und Texte, Briefe und Dokumente, Aussiedlungslisten und Tagebücher Geschichte. Die Geschichte des Ghettos in Łódź. Und mittendrin das geschwungene „Ve“, das Jens-Jürgen Ventzki nur allzu gut aus persönlichen Briefen seines Vaters kannte. Ein Schlag, von dem er gehofft habe, nie getroffen zu werden, schreibt er später in seinem Buch „Seine Schatten, meine Bilder“. 

Es ist das erste Mal, dass der Landtag zur Feierstunde anlässlich des Holocaust-Gedenktages einen Redner von der Seite der Täter eingeladen hat. Und es ist das erste Mal, dass Jens-Jürgen Ventzki vor einem deutschen Parlament redet. „Das hat für mich eine ganz große Bedeutung.“ 

Die Gewissheit

Der Täter, das war Werner Ventzki. Der Volljurist war 25, als er in die NSDAP eintrat. Zehn Jahre später, im Mai 1941, wurde er Oberbürgermeister von Litzmannstadt (so hieß Łódź seit April 1940) – und damit auch einer der wichtigsten Verantwortlichen für das Ghetto. Hier, im zweitgrößten Ghetto nach Warschau, lebten zwischen 1939 und 1944 um die 200.000 Menschen. Mitten in der Stadt. Eingepfercht auf vier Quadratkilometern. Täglich starben Kinder, Frauen, Männer. Vor Hunger, Kälte und Erschöpfung. Weil sie krank waren. Oder ins Vernichtungslager deportiert wurden. Höchstens 7.000 Menschen überlebten. 

Jens-Jürgen Ventzki ist 46, als sein dumpfes Gefühl im Jüdischen Museum der Gewissheit weicht. Der Gewissheit, dass sein Vater über all das Bescheid gewusst hatte. Und vielmehr noch: eine Mitverantwortung dafür trug. Es dauert ein Jahrzehnt, bis der Sohn die Kraft findet, im Katalog zur Ausstellung zu blättern und dabei weitere Details über seinen Vater zu erfahren. Er habe immer gewusst, dass sein Vater Oberbürgermeister gewesen war. Als Kind habe dieser Titel aber nicht gefährlich geklungen. Später habe die Familie nie darüber gesprochen; der Vater als Zeuge vor Gericht ausgesagt, „weder dienstlich noch außerdienstlich etwas von den Ausrottungsmaßnahmen gegen Juden“ erfahren zu haben. Lange habe er sich auch nicht getraut, genauer nachzufragen – und später Antworten erhalten, die im Widerspruch zu den vielen Unterlagen standen, die der Sohn inzwischen über das Ghetto und seinen Vater gelesen hatte. 

Die Spurensuche beginnt

2001 reist Jens-Jürgen Ventzki nach Łódź. Seine Spurensuche beginnt. Da, wo er 1944 geboren wurde und seitdem nie wieder war. Er kommt wieder und wieder. Durchforstet Archive. Liest unzählige Dokumente. Spricht mit Historikern. Trifft Holocaust-Überlebende auf der ganzen Welt. Menschen, die genau wissen, wer sein Vater war und ihm dennoch – oder gerade deswegen – helfen, die Schatten der Vergangenheit zusammenzusetzen. 

„Der erste Jude, den ich kennengelernt habe, war Leon Zelmann aus Wien.“ Vermittelt hat das Treffen eine Journalistin. „Ich habe mich nicht selber getraut, als Sohn eines Nazis einen Überlebenden anzusprechen.“ Als sie sich begegnen, hält Leon Zelmann minutenlang Ventzkis Hand. „Dieser Moment, wenn ein Überlebender des Ghettos mir die Hand so reicht – das ist ein sehr bewegender Moment.“ Auch Zelmann sucht einen Zeugen. Einen Zeugen von der anderen Seite; der die Dinge bestätigt, mit denen er leben müsse, aber nicht fertig werden könne. „Bürdet das Reden nicht uns Juden auf“, habe Zelmann ihm am Ende mit auf den Weg gegeben. „Ihr habt die moralische Pflicht, diese Arbeit zu leisten.“ Das sei für ihn so etwas wie eine Initialzündung gewesen, seine Familiengeschichte aufzuarbeiten, erzählt Ventzki den Gästen der Gedenkfeier. 

Pflicht und Verantwortung

„Die Verbrechen der Nationalsozialisten bringen uns in ewige Verantwortung. In die Verantwortung, niemals zu vergessen und uns sowie die nach uns Kommenden an das Unbeschreibliche zu erinnern“, sagte Landtags-Vizepräsidentin Beate Schlupp in ihrem Grußwort. „Damals wie heute gilt: Wir sind in der Pflicht, parolenhafte und einfache Lösungen kritisch zu hinterfragen. Wir sind in der Pflicht, unsere Einstellung und unsere Haltung zu reflektieren. Und wir sind in der Pflicht, uns zu vergegenwärtigen, dass wir hierfür Verantwortung tragen – der sich der Einzelne auch dann nicht entziehen kann, wenn er sich blind in ein Kollektiv einordnet.“ 

Ein unverzichtbarer Bestandteil des Erinnerns seien Gedenkstätten, so Jens-Jürgen Ventzki. Die Menschen bleiben stehen, nehmen sich Zeit, die Informationstexte zu lesen, sitzen manchmal minutenlang im Raum der Stille, schildert er seine Erfahrungen im Berliner Holocaust-Mahnmal. „Das ist doch ein Zeichen, dass wir diese Denkmäler brauchen.“ Auch die Sprache der Nazis dürfe nicht vergessen werden. „Da ist der Bogen sehr schnell zu heute gezogen.“ Der 74-Jährige spricht von zunehmendem Populismus und über seine Wahlheimat Österreich, in der die rechtspopulistische FPÖ seit den Parlamentswahlen im vergangenen Herbst Teil der Regierung ist. „Die Gefahr besteht darin, dass man sich an solche Dinge sehr, sehr schnell gewöhnt.“ 

"Ich hatte zwei Väter"

Mit jedem Dokument, das Jens-Jürgen Ventzki in Archiven entdeckt, mit jedem Zeitzeugen, der ihn an seinen Erinnerungen teilhaben lässt, zerbirst das Bild vom liebevollen Vater ein Stück mehr. Er muss zur Kenntnis nehmen, dass er zwei Väter hat: den liebevollen, der mit seinen Kindern lacht, albert, Mensch-ärgere-dich-nicht spielt. Und den, der die Menschen im Ghetto leiden und sterben lässt. „Mein Vater ist für mich genauso ein Täter wie jemand, der geschossen hat“, bezieht er im Dokumentarfilm „Linie 41“, den der Landtag vor einem Jahr zur Gedenkfeier gezeigt hat, klar Stellung. 

Seinen Vater, der nach dem Krieg unter anderem als Regierungsbeamter für Vertriebenenfragen zuständig war, nie als Nazi-Täter zur Rechenschaft gezogen wurde und 2004 im Alter von 98 Jahren starb, konfrontiert Jens-Jürgen Ventzki mit seinen Recherchen nicht. Einmal habe er versucht, mit ihm über das Ghetto zu sprechen. Der Vater habe bestritten, jemals dort gewesen zu sein. „Ich hätte ihm sagen können: Du, Papa, das stimmt ja nicht“, erzählte Ventzki einst bei einer Veranstaltung an der Universität Łódź. „Ich konnte es aber nicht, weil ich wusste, das bringt nichts.“ Die Sorge um die angeschlagene Gesundheit des Vaters lässt die Lüge auf sich beruhen. „Der Zeitpunkt war einfach überschritten.“ Dass sich sein Vater bis zum Schluss als überzeugter Nationalsozialist ausgab, machte eine Konfrontation nicht leichter. 

Eine Frage des Gewissens und der Verantwortung

Ob er sich mit der Aufarbeitung seiner Familiengeschichte reinwaschen wolle, wurde Jens-Jürgen Ventzki einmal gefragt. Seine Antwort: „Nein. Denn es geht ja nicht um mich. Es geht um eine Geschichte, die unsere Familie betrifft. Und damit ist es eine Frage des Gewissens und der Verantwortung.“

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