Die Gedenkstunde im Schweriner Landtag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. April 2022 war auch eine Suche nach neuen Formaten der Gedenkkultur. Besonders zwei Schüler beeindruckten die Gäste an diesem Abend mit ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit dem Holocaust.
Würde man für alle Opfer des Holocaust eine Schweigeminute einlegen, wäre die Welt mehr als elf Jahre lang still, sagte Yaki Lopez, Gesandter-Botschaftsrat der Botschaft des Staates Israel per Videobotschaft im Rahmen der Gedenkstunde im Schweriner Landtag. Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus wurde im Parlament still und feierlich begangen, verlief aber anders als ursprünglich geplant und es die Routinen der Erinnerungskultur erwarten ließen.
Erstmals seit 1996 fand die Gedenkstunde nicht am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, sondern aufgrund der Corona-Pandemie drei Monate später am Vorabend des israelischen Nationalfeiertags „Jom ha Schoá“ zu Ehren der Opfer der Schoá statt. Und es fehlten zum ersten Mal Zeitzeugen, die den anwesenden Gästen von ihrem erlebten Leid hätten berichten können. Der eingeladene Sohn des Chefanklägers im Eichmann-Prozess musste aufgrund seines Gesundheitszustandes absagen. Am Ende der Veranstaltung zeigte sich Landtagspräsidentin Birgit Hesse „berührt und erleichtert“, gelang es an diesem Abend doch, die Gedenkkultur neu zu interpretieren und einen Weg zu zeigen, wie mehr als sieben Jahrzehnte nach Ende des zweiten Weltkrieges das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus lebendig gehalten werden kann, auch wenn Überlebende nicht mehr davon berichten können.
Verantwortung statt Schuld
Wie eine Gedenkkultur ohne Zeitzeugen gelingen kann, darüber diskutierten in einer Podiumsdiskussion die Lehrerin Petra Klawitter und die Schüler Christoph Labrenz und Franz Spaans von der Europaschule Rövershagen, die Leiterin der Mahn- und Gedenkstätten Wöbbelin, Anja Pinnau zusammen mit dem ehemaligen Vorsitzenden der Landespressekonferenz und NDR-Journalisten Jürgen Hingst. Die zwei Schüler, die wie selbstverständlich im Plenarsaal auf den Plätzen saßen, an denen sonst die Landtagspräsidentin Birgit Hesse mit den Abgeordneten sitzt, und von dort munter und ohne Scheu von ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus berichteten, waren vielleicht das Sinnbild für diese neue Form des Gedenkens. „Die junge Generation verbindet Gedenken nicht mehr mit Schuld, sondern mit Verantwortung“, so die Erkenntnis von Birgit Hesse nach dem spannenden Gespräch.
Die Landtagspräsidentin hatte zuvor in ihrer Gedenkrede gemahnt: „Wo Parlamente und demokratische Willensbildung ausgehebelt werden, wo sie scheitern, wird Willkür möglich! Das muss unsere Lehre aus der Vergangenheit sein!“ Deshalb müsse jungen Menschen der Wert der Demokratie wie auch deren Zerbrechlichkeit immer wieder vermittelt werden.
Ministerpräsidentin Manuela Schwesig erzählte in ihrem Grußwort in knappen wie eindrücklichen Sätzen die Geschichte des jüdischen Jungen Ossi Steinfeld aus Rostock, der mit seiner Familie im Konzentrationslager ermordet wurde und spannte ebenfalls den Bogen von der Geschichte zur Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft.
Vergesst uns nicht!
Petra Klawitter berichtete in der Diskussionsrunde von Gesprächen mit jüdischen Opfern, die immer wieder sagen: „Vergesst uns nicht!“ Die Lehrerin an der Europaschule in Rövershagen leitet seit mehr als zwei Jahrzehnten die AG Kriegsgräber. Eine Arbeit, für die sie mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. Schülerinnen und Schüler pflegen Kriegsgräber und bewahren dabei auch die Geschichten der zahllosen Schicksale. Oft fördern sie diese überhaupt erst zu Tage, weil sie in Archiven nach Lebensspuren hinter den Namen auf den Grabsteinen suchen. So fügten die Schüler die Geschichte einer jüdischen Familie aus Anklam zusammen, die in Hitlers Todesmaschine umkamen, machten sogar einen Angehörigen in Israel ausfindig, der von diesem Anklamer Teil seiner Familie nur Fotos, aber keine Namen hatte. Sie besuchten den Mann in Israel und zum Abschied sagte er zu den Schülern: „Ihr seid nun auch meine Familie, denn ihr seid mein Gedächtnis.“
Von der Kraft dieser persönlichen Begegnungen erzählten die Schüler Christoph und Franz. „Man muss in die Gesichter dieser Menschen geschaut haben, ihre Hände geschüttelt haben, dann wird Geschichte begreifbar“, sagte Christoph Labrenz, der an diesem Abend direkt von der Abi-Deutschprüfung in den Landtag kam. Franz Sprax ist erst 13 Jahre alt, auch er glaubt, dass er auf die Geschichte des Holocaust aufgrund dieser persönlichen Begegnungen anders blickt als seine Mitschüler, die diese Erlebnisse nicht hatten.
Die Arbeitsgemeinschaft Kriegsgräber ist aber auch eine Blaupause dafür, wie eine Gedenkkultur ohne Zeitzeugen funktionieren kann: Wenn Menschen ihre Geschichte nicht mehr selbst erzählen können, braucht es Vermittler zwischen der Vergangenheit und Gegenwart. Zum Beispiel Stolpersteine mit den Namen der Opfer, die auf den Straßen überall im Land an Schicksale erinnern und die auch die Schüler aus Rövershagen schon gelegt haben. Auch über die Pflege von Gräbern und Einrichtungen setzen sich junge Menschen mit der Vergangenheit auseinander oder durch die mitunter detektivische Suche nach Lebensgeschichten von Opfern, die noch nicht erzählt wurden.
Einige Ergebnisse dieser Recherchen haben die Schülerinnen und Schüler der Europaschule Rövershagen mit Texten und Fotos in eine Wanderausstellung überführt. Auszüge waren auch im Schweriner Schloss zu sehen. Beim Empfang nach der Gedenkstunde konnten die Gäste die Geschichten der jüdischen Familien Ascher und Gumpert nachlesen, die in Bad Doberan und Parchim lebten und später vor den Nazis flüchten mussten oder im Konzentrationslager umgebracht wurden.
Gedenken mit allen Sinnen
Gedenken und Mahnung durch anschaulich gemachte Geschichte – dass alle Sinne von diesen Geschichten erreicht werden können, bewiesen die Musikerinnen Maria Gvozdetskaya und Maria Schwengebecher von der Hochschule für Musik und Theater in Rostock. Das Geigenduo verlieh der Veranstaltung mit Interpretationen des niederländischen Komponisten Dick Kattenburg den festlichen Rahmen. Kattenburg galt als eines der größten Talente seiner Zeit, der Musiker mit jüdischen Wurzeln, wurde aber seines Lebenswerkes beraubt: Bei den Nazis galt seine Musik als verfemt. Im Alter von nur 24 Jahren ermordete man ihn im Konzentrationslager Auschwitz.
So war die Erinnerung im Schweriner Plenarsaal auf verschiedenen Wegen greifbar. In dem Saal, der sonst Ort für hitzige Debatten ist, waren an diesem Abend alle Fraktionen im Gedenken vereint. Franz-Robert Liskow, Fraktionschef der CDU, sagte, „dass es gut sei, in solchen Momenten die politischen Auseinandersetzungen auch mal ruhen zu lassen“. Er sprach von „einer sehr gelungenen Veranstaltung“ und zeigte sich „sehr beeindruckt, vor allem von den Schülern“. Auch Yuriy Kadnykov, der Landesrabbiner in Mecklenburg-Vorpommern, lobte die Veranstaltung: „Wir haben heute gesehen, welche Wege es gibt, die Erinnerung und das Gedenken auch künftig lebendig zu halten. Das hat mich sehr bewegt.“
Die Schüler Christoph Labrenz und Franz Sparx waren sichtlich stolz, dass sie an diesem Abend im Plenarsaal Platz nehmen durften. Labrenz will nach dem Abitur Politikwissenschaften studieren. Dieser Wunsch, sich der Politik zu widmen, sei ganz maßgeblich durch sein Engagement bei der AG Kriegsgräber gereift, erzählte der Schüler. Wer weiß, vielleicht bringt ihn die Berufswahl eines Tages zurück in den Plenarsaal im Schweriner Schloss.
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