„Jedes Zeichen von Individualität wurde uns genommen. [...] Häftlinge tätowierten uns Nummern in den linken Arm ein. Ich erhielt die Nummer 117015 – sie befindet sich heute noch auf meinem Arm. Es gab nichts mehr, was an die Vergangenheit erinnerte. Wir hatten keinen Namen mehr, sondern nur noch Nummern. Aus einem Menschen mit Namen und Ansehen war eine erniedrigte Kreatur, ein Nichts geworden.”
Es ist die Schilderung von Erich Kary. Mit seinen Worten eröffnete Birgit Hesse, Präsidentin des Landtages Mecklenburg-Vorpommern, am Dienstag, den 24. Januar 2023, die Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Plenarsaal des Schweriner Schlosses.
Im Auditorium sitzen unter anderem Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, Landtagsabgeordnete, Nikolaus Voss, Beauftragter für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus in MecklenburgVorpommern, Valeriy Bunimov, Vorsitzender der jüdischen Gemeinden in MV, sowie die Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt. Außerdem weitere Besuchende, darunter Schülerinnen und Schüler aus Schwerin.
Nur wenige Tage vor dem Internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar bewahrten die Teilnehmenden die Erinnerungen an eines der größten politischen und menschlichen Verbrechen in der Weltgeschichte: Die Denunzierung, Verfolgung, Folterung und Ermordung Millionen von Menschen durch die Nationalsozialisten. Am 27. Januar 1945 waren die überlebenden Insassen des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau von der Roten Armee befreit worden. Seit 1996 ist der Internationale Holocaust-Gedenktag hierzulande als gesetzlicher Gedenktag verankert.
„Das Nazi-Regime wütete nicht nur in den Konzentrationslagern wie Auschwitz, Dachau und Buchenwald oder in großen Städten, sondern auch unmittelbar hier vor unserer Haustür”, sagte Birgit Hesse weiter. Jüdische Geschäfte wurden boykottiert. Erwachsene denunziert, Kinder schikaniert.
Darunter auch Esther Loewy. Die junge Jüdin ist 14 Jahre alt, als in der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 Synagogen, Wohnungen und Geschäfte brannten. Menschen wurden verhaftet, misshandelt und getötet. Nikolaus Voss, Beauftragter für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, erzählt ihre Geschichte.
Wie sie 1941 in ein Lager bei Fürstenwalde deportiert wird. Wie sie erst nach dem Krieg von der Ermordung ihrer Eltern erfährt. Wie sie 1943 als Nummer 41948 nach Auschwitz kommt. Wie sie später im KZ Ravensbrück in unbeobachteten Momenten bei Siemens Bauteile für U-Boote falsch zusammenbaut und so sabotiert. Und wie ihr 1945 auf dem Todesmarsch die Flucht gelingt. Esther beginnt, ihre Geschichte zu erzählen, als die NPD 1972 einen Info-Stand vor ihrem Laden in Hamburg aufbaut. Wie ihr ergeht es vielen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen.
Erst Jahre später beginnt Leon Geber, sich für seine Vergangenheit zu interessieren. Der Nachkomme der Familie Levy aus Bad Sülze war zu Kriegsende 6 Jahre alt. Der Zeitzeuge berichtet gemeinsam mit Bürgermeisterin Dr. Doris Schmutzer und Kuratorin Dr. Susanne Meyer von der Levy Ausstellung. Stellvertretend für viele erzählt die Wanderschau die Familiengeschichte aus der Zeit des Nationalsozialismus in Mecklenburg. Die Ausstellung flankierte die Gedenkstunde im Landtag. Leon Geber: „Wartet nicht so lange wie ich, eure Geschichte zu erkennen. Es ist wichtig, die Vergangenheit zu verstehen, um die Zukunft zu gestalten.”
Wie wichtig das ist, belegen bis heute judenfeindliche Sprüche und eine Verharmlosung des Dritten Reiches bis hin zu antisemitischen Gewalttaten, erklärt Birgit Hesse. „Die Zeit hinterlässt ihre Spuren, jeden Tag verringert sich die Zahl der Zeitzeugen der Verbrechen durch die Nationalsozialisten. Es bleibt uns kaum Zeit, die eine oder andere Frage an die Menschen zu richten, die die Zeit persönlich erlebt haben. Die letzte Grausamkeit ist das Vergessen", sagt Landesrabbiner Yuriy Kadnykov.