Am 17.–18. März 2024 fand in Helsinki, Finnland die zweite Sitzung der 2023 ins Leben gerufenen Arbeitsgruppe für Energiesicherheit und -unabhängigkeit, Resilienz und Konnektivität der Ostseeparlamentarierkonferenz (Baltic Sea Parliamentary Conference, BSPC) statt. Vom Landtag Mecklenburg-Vorpommern nehmen Herr Philipp da Cunha, MdL als Vizevorsitzender und Frau Erste Vizepräsidentin Beate Schlupp, MdL als stellvertretendes Mitglied an dieser Arbeitsgruppe teil.
Handlungsaufforderungen der Parlamente im Fokus
Zu Beginn der Sitzung erinnerte der Arbeitsgruppenvorsitzende, Herr Andris Kulbergs aus Lettland, an eine unerwartete Energiepreissteigerung in Skandinavien und im Baltikum im Januar 2024, die durch eine Unterbrechung der Stromproduktion durch Windräder infolge von Stürmen in Dänemark ausgelöst worden war. Obwohl die stabile Energieversorgung habe dank Überschüssen aus der lettischen Stromproduktion schnell wiederhergestellt werden können, habe die Situation die existierenden Schwachstellen im Energiesystem offenbart. Die Ostseeregion sollte daher ihre Zusammenarbeit in Energiefragen vertiefen, um Bedrohungen vorauszusehen und diesen vorzubeugen.
Die Arbeitsgruppen der BSPC zielen traditionell darauf ab, zum Austausch von Wissen und bewährten Verfahren bezüglich aktueller Herausforderungen beizutragen, die den gesamten Ostseeraum betreffen. Und so stand der Schutz kritischer Infrastruktur im Zentrum des eintägigen Treffens in der finnischen Hauptstadt, an dem Abgeordnete aus mehreren Ostseeanrainerstaaten und -regionen teilnahmen.
Potentielle Krisenfälle: hybride Bedrohungen und notwendige Maßnahmen
Während eines Besuchs des Europäischen Exzellenzzentrums für die Bekämpfung hybrider Bedrohungen (European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats) kamen die Abgeordneten mit Experten ins Gespräch, die Regierungen der EU- und NATO-Staaten in Fragen der Sicherheit, Verbesserung der EU-NATO Kooperation sowie Steigerung des Bedrohungsbewusstseins beraten. Ein gutes Situationsverständnis erfordere eine Verbesserung der Verteidigungskapazitäten sowie Planung und Konzeption von Gegenmaßnahmen. Doch am Wichtigsten sei die Erhöhung gesellschaftlicher Resilienz, welche kurzfristig die Schließung von Gesetzeslücken und langfristig einen kulturellen systemischen Wandel bedeute. Zudem sei eine gute Kenntnis nicht nur nationaler Gesetzeslagen und -lücken, sondern auch des Völkerrechts und des internationalen Seerechts von hoher Bedeutung, wenn es um Fragen der Sicherheit kritischer Infrastruktur – darunter auch Unterseekabel und Rohrleitungen – gehe.
Die Diskussion notwendiger Maßnahmen in potentiellen Krisenfällen wurde ferner im Gespräch mit Vertretern der finnischen Nationalen Agentur für Notfallversorgung (National Emergency Supply Agency, NESA) vertieft. Diese gehöre zum finnischen Wirtschaftsministerium und sei für die Sicherstellung öffentlicher Grundversorgung im Krisenfall, bei militärischen Konflikten, Störungen in logistischen Ketten und hybriden Bedrohungen zuständig. Die Agentur verfolge ein öffentlich-privates Modell zur Gewährleistung von Versorgungssicherheit. Das Netzwerk bestehe aus mehr als hundert freiwilligen strategischen Partnern, die im Bereich der Lebensmittelversorgung, Logistik, Datennetze, Medien, usw. tätig seien. Zudem sei die Zusammenarbeit mit anderen Ministerien sehr wichtig. Zu den Haupttätigkeiten der Agentur zählten Analyse, Prognosen und auch strategische Planung. Bei der Umsetzung konzentriere sich die Agentur primär auf die Sicherstellung strategischer Vorräte und praktische Kooperation mit Zulieferern.
Expertenanhörung im finnischen Parlament
Im Anschluss fand eine Anhörung von eingeladenen Sachverständigen in den Räumen des finnischen Parlaments statt. Zunächst hielt der Ministerialrat im Büro des finnischen Premierministers, Herr Jussi Soramäki, einen Vortrag zum Thema „Maritime Politik, Geopolitik und Finnland“ und wies auf die Bedeutung von Seetransport für das Land hin – denn 95% der Exporte und Importe Finnlands würden auf dem Seeweg transportiert. Der Krieg in der Ukraine und die aktuellen geopolitischen Entwicklungen gefährdeten die Konnektivität in der Ostseeregion. Zu den potentiellen Risiken für die Energiesicherheit und die Umwelt zählten unter anderem die Möglichkeit der Abschaltung von Offshore-Windparks, Beschädigung von Unterseekabeln, vorsätzliche hybride Handlungen, die zu schweren Verschmutzungsunfällen führen könnten, sowie Verschmutzung durch die so genannte „Schattenflotte“. Die Zusammenarbeit in der Region sei in der Vergangenheit sehr erfolgreich gewesen. Der Ostseerat und die EU-Ostseestrategie böten weiterhin einen wichtigen institutionellen Rahmen für praktische regionale Kooperation zur Adressierung gemeinsamer Herausforderungen; doch die Helsinki-Kommission (HELCOM) musste eine strategische Pause aufgrund des russischen Krieges in der Ukraine einlegen, da Russland weiterhin Vertragspartei des Übereinkommens zum Schutz der Meeresumwelt des Ostseegebietes bleibe.
Aktuell benutze Russland eine Vielzahl von Ressourcen und Instrumenten als Zwangs- und Unterdrückungsmittel, um Krieg gegen Demokratie und die Energiewende zu führen, so Herr Prof. Dr. Veli-Pekka Tynkkynen von der Universität Helsinki. Einnahmen aus dem Energiesektor hätten den Weg von Autarkie und Autokratie zur Diktatur geebnet. Dabei habe der Westen zur Entwicklung einer Mentalität des fossilen Imperiums beigetragen. Momentan benutze Russland sowohl Energie, als auch Flüchtlingsströme als Waffen und obwohl Russland selbst unter den Folgen des Krieges und der Sanktionen leide, werde es nicht aufgeben, solange es damit den wahrgenommenen Gegnern Schaden zufügen könne. Angst sei zu einem Hauptexportgut von Russland geworden, doch man dürfe diese Angst nicht importieren. Man brauche eine langfristige Strategie im Umgang mit Russland, die neben Sanktionen auch Anreize beinhalten würde. Während Russland weiterhin isoliert werde, solle den Bürgerinnen und Bürgern gezeigt werden, dass es auch einen anderen Weg gebe und dass der Krieg einen hohen Preis habe.
Energiesicherheit und -unabhängigkeit in Europa und in der Ostseeregion
Anschließend berichteten Herr Dr. Marco Siddi und Frau Cordelia Buchanan vom Finnischen Institut für Internationale Beziehungen (Finnish Institute of International Affairs, FIIA) über ihre Forschung zum Thema „Geopolitik, EU-Energiepolitik und Energiesicherheit in der Ostseeregion“. Die globale Geopolitik fossiler Brennstoffe, die auf gegenseitige Abhängigkeiten zurückzuführen sei, bestehe fort, doch langsam entwickle sich auch eine Geopolitik von erneuerbaren Energien. Wichtige Faktoren in diesem Zusammenhang seien Zugang zu Technologie, Stromleitungen, seltenen Erden und kritischen Materialien sowie Lagerung, Lieferketten, Intelligente Netze usw. Europa sei in dieser Hinsicht ein wichtiger Akteur, doch seine Bedeutung im globalen Kontext nehme ab. Daher müsse sich Europa mit dem Rest der Welt vernetzen und zusammenarbeiten. Mit dem REPowerEU-Plan möchte die EU ihre Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland beenden, indem Energie eingespart, die Energieversorgung diversifiziert und die Energiewende beschleunigt werde. Doch die Energiewende habe bereits vor dem Krieg in der Ukraine mit dem Grünen Deal 2020 angefangen. Die Herausforderung bestehe darin, die für den Übergang erforderlichen Ressourcen zu beschaffen. Mit Blick auf die nationalen Fähigkeiten und Schwachstellen der Länder in der Ostseeregion solle die Interkonnektivität und regionale Kohäsion erhöht werden. Der Aufstieg von Kernenergie und LNG seien wichtige Trends, die die zukünftigen Entwicklungen im regionalen Energiesektor beeinflussen würden. Generell sollten bei der Konzeption gemeinsamer Lösungen die unterschiedlichen Ausgangslagen und nationale Strategien zum Ausstieg aus fossilen Brennstoffen in einzelnen Ländern beachtet werden.
Abschließend warf Frau Prof. Dr. Johanna Kohl, Programmdirektorin des Finnischen Instituts für natürliche Ressourcen (Natural Resources Institute Finland), einen Blick in die Zukunft und warb für die Entwicklung von Bioökonomie. Die EU solle sicherstellen, dass ihre Industrie- und Finanzpolitik Lösungen der Bioökonomie für die Polykrise ermöglicht. Daneben sollte mehr Wertschöpfung aus der Bioökonomie geschaffen und die Abhängigkeit des EU-Lebensmittelsystems von importierten Produktionsmitteln reduziert werden. Bioökonomie habe das Potenzial, die Wertschöpfung der EU zu steigern. Allerdings sei die Entwicklung der Wertschöpfungsketten der Bioökonomie in letzter Zeit vernachlässigt worden. Dabei könnten biobasierte Düngemittel die Ernährungssicherheit erheblich verbessern, Biomasse und ihre Nebenprodukte könnten verwertet werden, während recycelte Nährstoffe konzentrierte Düngemittel ersetzen könnten. Zudem sorge Diversität für Widerstandsfähigkeit und Sicherheit von Energiesystemen. Dafür bräuchte es Investitionen in Forschung, Technologieentwicklung und Innovationen, eine Stärkung der Rolle von Bioökonomie in der EU-Industriepolitik, Unterstützung für die Entwicklung von starken regionalen Unternehmensclustern und Wertschöpfungsketten, die Grundsätze der Kreislaufwirtschaft in der Bioökonomie priorisieren, sowie eine Förderung der Zusammenarbeit zwischen Forschung, Finanzwesen und Industrie zur Stimulierung von Investitionen, die zu einer Produktion mit hoher Wertschöpfung unter Verwendung biobasierter Rohstoffe führen.
Arbeitsgruppe: Planung und Ausblick
Nach dem Austausch mit Expertinnen und Experten besprachen die Arbeitsgruppenmitglieder ihre Empfehlungen für die Jahreskonferenz, beschlossen Fragen für die Regierungen der Ostseestaaten und -länder und planten ihre bevorstehenden Aktivitäten. Die nächste Sitzung der BSPC Arbeitsgruppe für Energiesicherheit und -unabhängigkeit, Resilienz und Konnektivität wird vom Landtag Mecklenburg-Vorpommern ausgerichtet und findet am 27.–28. Mai in Greifswald statt.